Offener Brief an Medien, Politik und Eltern zur “Killerspiel”-Debatte

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[Dies ist ein Beitrag von Deef Pirmasens und erschien ursprünglich in dessen Blog Gefühlskonserve.de. Er fasst augezeichnet zusammen, was in der aktuellen Debatte nach dem Amoklauf von Winnenden alles falsch gelaufen ist und weiterhin läuft und ruft zu einer sachlicheren Diskussion auf. Mit seinem Aufruf an die Medien, sich auf ihre journalistische Sorgfaltspflicht zurückzubesinnen, und Themen reflektiert und abseits von Quotendruck und Hysterie aufzubereiten, spricht er mir 100%ig aus der Seele. Bitte nehmt diesen Text und verbreitet Ihn auf Euren Blogs, in Foren, per Twitter und wo auch immer Ihr Euch im Netz herumtreibt, damit die öffentliche Verunglimpfung von Spielern eingedämmt wird und der mediale wie politische Irrsinn endlich ein Ende nimmt. Nur wenn wir massiv als eine Stimme auftreten, haben wir die Möglichkeit, gehört und ernstgenommen zu werden. Danke!]

Den Fans von Videospielen geht es wie vielen anderen, die die Debatte, die in der Folge des Massenmords von Winnenden losgetreten wurde, verfolgen: sie sind fassungslos und verärgert. Fassungslos hinsichtlich des Leids, welches ein scheinbar ganz normaler Jugendlicher mit der Pistole seines Vaters angerichtet hat. Verärgert darüber, wie nun versucht wird, diese Wahnsinnstat unter anderem damit zu erklären, dass Videospiele Jugendliche zu Killern machten. Neue Medien gelten als suspekt. Das ist nicht nur bei Videospielen oder dem Internet so, sondern galt früher auch fürs Fernsehen, Film, Micky-Maus-Hefte (die als Schmutz- und Schund verunglimpft wurden) und Büchern. Angeblich hat schon Goethes “Die Leiden des jungen Werther” reihenweise junge Männer in den Selbstmord getrieben.

Sind Menschen Pawlowsche Hunde?

Die Diskussion läuft dabei immer nach dem gleichen Muster ab: einem neuen Medium, das viele nur vom Hörensagen kennen, wird vorgeworfen, junge Menschen zu verblöden. Das Reiz-Reaktions-Muster welches dieser Argumentation zugrunde liegt, ist das von Pawlow. Sind Menschen wie Hunde, die auf ein Signal hin zu sabbern anfangen? Nein. Die psychologische Forschung hat die Annahme, menschliches Verhalten könne sich über plumpe Reiz-Reaktions-Schemata erklären lassen, schon vor Jahrzehnten widerlegt.

Wir Videospiel-Fans appellieren an Journalisten, sich mit Spielen und der Gesetzeslage, über die sie berichten, professionell auseinanderzusetzen. Kennen Sie den Unterschied zwischen ab 18 Jahren freigegebenen und indizierten Spielen? Wissen Sie ob World of Warcraft ein Egoshooter oder ein Online-Rollenspiel ist und ob Counterstrike nur Gewalt enthält oder Gewalt verherrlicht? In der Vergangenheit haben wir oft erlebt, dass Journalisten all das nicht wussten und mittels ausgesuchter Experteninterviews ihre eigenen Vorurteile gegenüber Videospielen bestätigten.

Journalistische Sorgfaltspflicht

Bei genauem Hinsehen werden Sie, verehrte Journalisten, feststellen, dass es eine breite Palette an Psychologen, Medienpädagogen und Erziehungswissenschaftlern gibt, die nicht durch die Talkshows tingelt, keine lauten Verbotsschreie von sich gibt, sondern zur Differenzierung auffordert. Die journalistische Sorgfaltspflicht gebietet Ihnen ihre Recherche vorurteilsfrei und ergebnisoffen zu gestalten und in Konflikten beide Seiten darzustellen. Berichten Sie über die Erkenntnisse der Medienforschung, statt pauschal vorzuverurteilen. Warum erwähnen Sie überhaupt , dass der Massenmörder von Winnenden auch Computerspiele auf seinem Rechner hatte, wenn nicht bewiesen wurde, dass ein direkter Zusammenhang zwischen Medieninhalten und Gewalttaten besteht?

Möglicherweise haben Sie das Gefühl, die negative Wirkung von Videospielen liege auf der Hand, weil viele jugendliche Attentäter gewalthaltige Games besaßen. Wenn sie annehmen, hier bestünde ein einwandfreier Kausalzusammenhang, dann ignorieren Sie, dass Millionen Menschen sich mit derartigen Medien beschäftigen und ein friedliches Leben führen. Die Schlussfolgerung, die Sie mit einem Satz wie “alle Attentäter beschäftigten sich mit Gewaltspielen” ihren Lesern/Hörern/Zuschauern aufnötigen, folgt der gleichen Pseudo-Kausalität, wie die Aussage “Alle Attentäter sahen gerne fern” oder “Alle Attentäter aßen gerne Kartoffeln”. Macht das Sinn, verehrte Journalisten?

Politikverdrossenheit durch Ignoranz und Populismus

Wir Videospiel-Fans appellieren an Politiker, reflexhafte Verbotsschreie nach Attentaten einzustellen. In Bierzelten mag das Applaus bringen, aber Sie machen sich bei den Millionen von wahlberechtigten Menschen, die sich besser mit Spielen auskennen als Sie, lächerlich.  Ihre Erklärungsversuche und Schuldzuweisungen strotzen vor Ignoranz und Populismus. Sie schüren so – gerade bei jungen Leuten – die Politikverdrossenheit und Sie treiben Menschen, die noch wählen gehen, zu anderen Parteien.

Aus unserem Leben sind Medien nicht mehr wegzudenken. Warum haben wir immer noch keine regelmäßige Medienerziehung in den Schulen? Warum wird so wenig für die Aufklärung von Eltern bezüglich Medienwirkungsweisen und Medieninhalten getan? Warum wird zugelassen, dass unser Schulsystem aussortiert und frustriert und so eine hohe Zahl von Schulversagern produziert? Wie kann es sein, dass die einzige Anerkennung, die einzigen Erfolgserlebnisse, die manche Jungs erfahren aus Videospielen kommt? Wir brauchen eine Kultur des Hinsehens und der Anerkennung in den Schulen und wir müssen uns bewusst werden, welche Verantwortung Eltern hinsichtlich des Medienkonsums ihrer Kinder haben. Hier sind Sie gefragt, verehrte Politiker.

Nachhaltige Politik nimmt die Eltern in die Pflicht

Wir haben eines der restriktivsten Jugendschutzgesetze der Welt in Deutschland und das ist auch gut so. Wenn dennoch Spiele, die nicht für Kinder bestimmt sind, von Kindern gespielt werden, woran liegt das dann? Eltern sind verantwortlich dafür, dass ihre Kinder gut ernährt, gekleidet, erzogen werden. Wenn sie ihre Kinder verwahrlosen lassen, ist das ein Fall fürs Jugendamt. Wenn aber Kinder stundenlang vorm Fernseher oder dem Computer sich mit Inhalten beschäftigen, die nicht für sie gemacht sind, wenn diese Kinder also medial verwahrlosen, wieso ignoriert man dann die Verantwortung der Eltern und ruft nach Verboten für Videospielen? Nachhaltige Politik, die nicht nur auf schnelle Aufmerksamkeit abzielt, schaut auf die Ursachen, nicht auf die Symptome und nimmt die Eltern in die Pflicht.

Wir Videospiel-Fans appellieren an Eltern sich mit ihren Kindern und den Medien, die sie begeistern, auseinander zusetzen. Wenn Sie ihren Kindern schon Fernseher, Spielkonsolen oder Computer ins Zimmer stellen, sollten sie auch wissen, was damit gemacht wird. Sie werden feststellen, dass viele Spiele wunderbare Geschichten erzählen, die begeistern und berühren. Sie werden feststellen, dass viele Spiele völlig friedlich sind. Sie werden feststellen, dass Spiele, in denen Gewalt vorkommt, Brutalität nicht um der Gewalt willen eingesetzt wird, sondern als Handlungsaspekt einer Geschichte oder im Rahmen eines sportlichen Wettkampfs mit Teamcharakter.

Verwechslungen zwischen “gewalthaltig” und “gewaltverherrlichend”

Wenn ihr Kind aber auch Spiele besitzt, die erst ab 18 freigegeben oder gar indiziert wurden, so passiert das maßgeblich deshalb, weil Sie als Vater oder Mutter keinen oder zu wenig Überblick haben, was Ihr Kind eigentlich macht. Schauen Sie hin, haben sie Interesse und haben Sie den Mut Ihren Kindern Spiele, die nicht für Kinder gemacht wurden, wegzunehmen und zu verbieten. Die Verantwortung für ihre Kinder kann ihnen niemand abnehmen, nicht der Gesetzgeber und kein Zensor.

Klargestellt werden muss: “Gewaltverherrlichung” ist vom Jugendschutzgesetz bereits seit langem verboten. Spiele oder andere Medien, die Gewalt verherrlichen landen auf dem Index der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien und dürfen nicht beworben oder offen verkauft werden. Spielezeitschriften dürfen nicht mal Rezensionen mit den Namen von indizierten Spielen drucken. Zu kaufen sind sie nur für Erwachsene, die im Laden gezielt danach fragen, weil indizierte Spiele nicht offen in Geschäften ausliegen dürfen. Verwechseln sie indizierte Spiele nicht mit Games, die von der USK, der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle, ab 18 Jahren freigegeben wurden. Diese Spiele sind höchstens gewalthaltig, nicht aber gewaltverherrlichend. Sie merken also, dass jeder Politiker und jeder Journalist, der davon spricht, gewaltverherrlichende Spiele müssten verboten werden, nicht weiß wovon er spricht.

Wir sind keine potentiellen Gewaltverbrecher oder Psychopathen

Bei einem Thema wie Jugendschutz und der Verhinderung von Gewalttaten ist es aber nicht nur wichtig, sondern absolut unerlässlich zu wissen, wovon man spricht. Da gibt es Leute, für die alleine schon der Verdacht, Videospiele könnten negative Einflüsse haben, genügt um Verbote auszusprechen. Ob denen bewusst ist, dass sie damit die im Grundgesetz garantierte Meinungs- und Medienfreiheit mit Füßen treten, darf bezweifelt werden. Nur, was bringt es Spiele zu zensieren und zu verbieten, wenn der Nutzen dieser Restriktionen nicht erwiesen ist, sogar von den meisten Experten in Zweifel gezogen wird?

Wir Fans von Videospielen haben im Hinblick auf Games die Medienkompetenz, die vielen Journalisten, Politikern und leider auch Eltern abgeht. Viele von uns haben selbst Kinder, einige bloggen oder nutzen andere Web2.0-Techniken und nehmen so an der Debatte teil. Wir sind ganz normale Leute und wir sind viele. Wir wollen nicht mehr belogen und in die Nähe von Gewaltverbrechern und Psychopathen gerückt werden. Wir wünschen uns eine offene, auf Fakten basierende Diskussion. Hören Sie auf unsere Stimmen.

Picture:forgotten_letter” by sillydog. Published under Creative Commons License (by-nc-sa).

2 Comment

  1. […] Brief an Medien, Politik und Eltern zur “Killerspiel”-Debatte Ich habe diesen Text bei endoflevelboss gefunden. Ursprünglich stammt er von Die Gefühlskonserve. Da ich ja nun auch schon meinen Beitrag […] View all comments by Offener Brief an Medien, Politik und Eltern zur “Killerspiel”-Debatte « Maehman’s Blog - Gaming and more

  2. Der Reihe nach:

    Gleich zu Beginn bekomme ich den Eindruck, dass der sogenannte “Werther-Effekt” als Blödsinn hingestellt wird. Denn angeblich war Goethes Werk damals Schuld. Nun denn, Zitat Wikipedia:

    Als Werther-Effekt wird in der Medienwirkungsforschung das durch wissenschaftliche Studien belegte Phänomen bezeichnet, dass Suizide, über die in den Medien ausführlich berichtet wird, eine signifikante Zahl von Nachahmungstaten auslösen.

    Das ist wissenschaftlich belegt. Gut, der Autor hat den Werther-Effekt hier nicht kategorisch verneint, aber es schwingt mit, oder? Vorallem im Zusammenhang mit dem nächsten Absatz.

    Also, dass der pawlowsche Reflex funktioniert, merk ich jedesmal, wenn ich die Badezimmertür öffne um aufs Klo zu gehen. Ab da wirds nämlich unerträglich dringend 😉

    Bin mir also nicht sicher, ob man den pawlowschen Reflex mit in die Argumentation aufnehmen sollte. Soweit ich weiß ist dieser ein sehr schönes Beispiel für erlernbare Reflexe, auch beim Menschen. Wenn Sätze kommen wie “seit Jahren widerlegt“, dann kommt man m.E. um Quellenangaben nicht herum. Sonst hat das Ganze soviel Aussagekraft wie ein Politiker der sagt, dass der Zusammenhang Killerspiele Amoklauf “seit Jahren belegt ist”.

    Das, kombiniert mit dem “angeblichen” Werther-Effekt ist m.E. schon mal ein ganz schlechter und schon alles andere als wertungsfreier Start in den Artikel, leider. Gut, eventuell sollte er nicht wertungsfrei sein. Ich sehe in diesen Punkten aber Fehler, die einer Gegenargumentation Angriffsfläche bieten.

    Das totale Unverständnis, warum “gewalthaltige Computerspiele” nicht mit derselben Gewichtung in die Diskussion fallen, wie “Alle Täter aßen gern Kartoffeln”, wirkt auf mich auch befremdlich. Sicher, einen direkten kausalen Zusammenhang kann man nicht so einfach herstellen – aber dass die Allgemeinheit (und deren Sprachrohr, die Journalisten) bei einem Produkt, das Gewalt als Thema hat, eher einen Auslöser für Gewalt suchen, als bei Kartoffeln, liegt doch IMHO auf der Hand. Hier so zu tun, als sei beides dasselbe, ist naiv und lässt nicht den Eindruck einer sachlichen Diskussion entstehen.

    Die “Leier” vom “Eltern in die Pflicht nehmen” ist auch wieder dabei und sicher nicht falsch. Ja, hier sieht man wenn man näher nachdenkt den Ursprung, bzw. den besten Ansatz, um das Problem langfristig zu lösen. Und was passiert kurzfristig? Hier haben wir geneigte Killerspiel-Befürworter keine Antwort parat. Das ist aber genau die Antwort, die sich das medieninkompetente Volk jetzt wünscht. Gewählt wird vom Volk und ob es manchen passt oder nicht – das, was die Politiker da tun, will das Volk. Wir sind die Minderheit.

    Zu denken, dass man die Unwissenden ja “nur” aufklären muss, ist m.E. ein Trugschluss. Das hat bei sovielen anderen, brennenden Themen schon nicht funktioniert. Man kann nicht einfach das ganze Volk aufschlauen. Man wird auch in Zulunft die Menschen haben, denen es Recht ist, wenn die Politik sie bei der Erziehung bevormundet / ihnen Arbeit abnimmt durch Scheingesetze. Meines Erachtens eine traurige Wahrheit.

    Ich befürworte die langfristigen Vorschläge unserer Seite. Ich bin aktiv daran beteiligt, jeden über die “Wahrheit” hinter unseren Spielen aufzuklären. Ich sehe ebenso den blinden Aktivismus der Politiker, welche die Gunst der Stunde nutzen. Ich würde den Absatz über die politische Lage soweit unterschreiben – aber er bleibt dennoch unvollständig in Bezug auf eine kurzfristige Lösung.

    Nur, was bringt es Spiele zu zensieren und zu verbieten, wenn der Nutzen dieser Restriktionen nicht erwiesen ist, sogar von den meisten Experten in Zweifel gezogen wird?

    Eine kurzfristige Lösung für besorgte, uninformierte Bürger. Welche die Mehrzahl bilden.

    Ein weiterer Denkansatz: Ich glaube auch, dass die Politik die Masse an Leuten, die erkennt, was für einen Stuss da teilweise geredet wird, unterschätzt. Politikverdrossenheit wird definitiv gefördert. Hier taucht aber auch ein Problem auf, dass auch schon bei Vorratsdatenspeicherung auftrat: Klar, ich könnte jetzt Parteien wählen, die mein Vorhaben unterstützen. Nur ist es leider so, dass a) diese Parteien gern in monumentalen anderen Bereichen verkacken oder b) Videospiele einfach nicht wichtig genug für unsere Gesellschaft sind, um davon eine Wahl abhängig zu machen.

    Ich finde den Artikel gut. (Vor)lesenswert für alle uninformierten, ängstlichen Bürger. Aber wird Mami danach beruhigt sein? Eher nicht. View all comments by laZee

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